Meine DataViz-Held*innen (2/5): Florence Nightingale – The Lady with the lamp
Im ersten Teil meiner Blogreihe zu meinen Held*innen der Datenvisualisierung habe ich mich an dem doch eher zwielichtigen Charakter William Playfair abgearbeitet.
Wenn William der Schurke vor dem Herrn war, war die Dame, um die es nun gehen soll das absolute Gegenteil: Ein Engel – wenn auch rückblickend ein nicht ganz unumstrittener Engel. Es geht um Florence Nightingale. Einigen vielleicht als Begründerin der modernen Krankenpflege weniger aber als Statistikerin bekannt. Florence Nightingale ist jedoch eine Pionierin der visuellen Darstellung von Informationen. Ihr Rose Chart gilt als visueller Meilenstein.
Florence wurde 1820 als Kind reicher englischer Kaufleute in Florenz(!) geboren. Mit 17 hatte sie ihre erste göttliche Erscheinung und war seitdem auf einer Mission – ähnlich wie diese beiden Herren.
Allerdings brachte sie keine Band zusammen, sondern Florence sah es als ihre gottgewollte Aufgabe, sich für die Armen und Schwachen einzusetzen.
Schön früh zeigte sich auch ihr Interesse für Mathematik und die neu aufkommende Statistik. Doch als junge Frau im viktorianischen England konnte sie mit diesem Wissen nicht punkten. Ihre Eltern wollten, dass Florence einen reichen möglichst adligen Mann mit Landbesitz heiratet und Kinder zeugt. Basta!
Das kam jedoch für Florence nicht in Frage: Heiraten war für sie „Selbstmord“. Mit 25 Jahren hatte Nightingale ihre Berufung in der Versorgung von Kranken gefunden. So ging sie für eine Schwesternausbildung nach Deutschland und übernahm anschließend die Leitung eines Hospitals in London.
Als 1854 die Engländer auf der Krim in den ersten „modernen“ Krieg gegen die Russen zogen, zeigte sich schnell der desolate Zustand des englischen Sanitätsdienstes – insbesondere der Pflege der Verwundeten. Die englischen Soldaten starben wie die Fliegen; die russischen Verletzten waren sehr viel besser versorgt.
Deshalb schickte ein befreundeter Staatssekretär im Kriegsministerium Florence auf die Krim, um die medizinische Notlage dort zu lindern. Dort, wo sie über Leichen stieg und durch Exkremente watete, wurde sie schnell als „Lady with the lamp“ von den Soldaten mystifiziert.
Die Pionierin der modernen Krankenpflege beharrte auf saubere Räume mit Frischluft, Händewaschen und regelmäßigem Wechseln der Bettwäsche sowie ausgewogener Ernährung.
Tatsächlich sank die Sterblichkeitsrate infizierter Soldaten von 40 auf 2 Prozent aufgrund des unermüdlichen Einsatzes ihres Teams. Sie selbst war jedoch nur selten an der direkten Pflege der Soldaten beteiligt, sondern als Organisatorin im Hintergrund tätig.
Aber der Mythos „Nightingale“ war geboren.
Zum Beleg des Erfolgs ihrer für uns heute selbstverständlichen Maßnahmen erstellte sie Tabellen und Diagramme. Als begeisterte – und gläubige – Statistikerin drang sie darauf, statistische Methoden in die Krankenpflege mit einzubeziehen.
Unablässig “bombardierte” sie Politiker mit Statistiken, Analysen und Vorschlägen. Man könnte auch sagen, sie nervte:
Florence Nightingale
“Um die Gedanken Gottes zu verstehen, müssen wir Statistiken studieren!”.
Ihre bekannteste Visualisierung ist das sogenannte Rose Chart von 1858: ein Polar Area Chart, das Daten radial angeordnet abbildet. Nightingale ist vielleicht nicht die Erfinderin dieses Chartyps, wie immer wieder kolportiert wird, aber ihre Anwendung legendär.
Nightingale visualisiert mit ihrem Rose Chart die Todesursachen der Soldaten im Lazarett in Scutari. Es geht ihr nicht um die Abbildung genauer Werte, die liefert sie in „angehängten“ Tabellen, sondern um das Hervorheben der Bedeutung ihrer Sanitätsarbeit im Krimkrieg.
Die Interpretation des Rose Chart ist allerdings recht schwierig:
- Ungewöhnlich ist der Lesefluss von rechts nach links: Das große Diagramm rechts zeigt das Jahr 1854. Das kleine Diagramm das Folgejahr.
- Die Monate werden beginnend mit dem Monat April “ab 09.00 Uhr” aufgetragen.
- Die Daten werden NICHT aufeinander gestapelt abgebildet.
- Das Rose Chart ist KEIN Kuchendiagramm, die Winkel sind identisch!
Dennoch: eine sehr überzeugende Visualisierung. Es wird sofort ersichtlich, wie viel mehr Soldaten an vermeidbaren Infektionen (blau) als an Kampfwunden (rot) und anderen Ursachen (schwarz) im Lazarett starben: die blaue Fläche links ist viel kleiner.
Michael Friendly – ein Historiker – bringt es in diesem Zitat schon auf den Punkt:
“Rather, she was arguably the first to use this graph for political persuasion and
Quelle: Michael Friendly, The Golden Age of Statistical Graphics, S. 12
popular impact – the graphic message hits you between the eyes.”
Und genau das war der Zweck dieser Visualisierung: Überzeugungsarbeit zur Bewilligung von Finanzmitteln für die Pflege, um die Zahl der Infektionstoten zu reduzieren.
Mit heutiger Technik hätte es dieses Chartkombi in jede PowerPoint Präsentation geschafft.
Als Dashboard- und Berichtsdesigner bin ich jedoch kein Fan von kreisförmig angeordneten Diagrammen. Nightingales’ Rose Charts macht zwar einen phantastischen Job, die EINE Botschaft deutlich rüberzubringen, aber bei genauerer Analyse dieses Charttyps wird deutlich, wie stark verzerrt die Daten abgebildet werden. Das sehen auch die Journalisten des The Economist so, weshalb dort komplett auf Polar Diagramme verzichtet und stattdessen nur Balkendiagramme verwendet werden:
Dieses Beispiel zeigt deutlich wie stark Polar Area Charts den visuellen Eindruck verzerren. Da die Kreissegmente “nach außen wachsen”, erscheinen große Werte stark überzeichnet: Der Wert für Indien ist im Polar Chart links visuell ~8x größer als der für Brasilien. Tatsächlich ist er aber “nur” um den Faktor 3 größer.
Quelle: https://bit.ly/3iEIsaZ
Nightingale hat sich diesen Effekt schlau zu Nutze gemacht.
Diese „Tricks“ haben dennoch nichts in Turnus-Berichten oder -Dashboards zu suchen. Zumal es ja bei diesen nicht um die EINE Botschaft geht, sondern um eine Basis für Vergleiche zur Muster-, Trend- und Ausreißererkennung als Entscheidungsgrundlage.
Was wäre eine alternative Visualisierung? Natürlich – wer hätte es gedacht – simple Säulen mit Abweichungen. Hier ein Beispiel – erstellt mit unseren graphomate charts.
Datenquelle: https://www.dataplusscience.com/NightingaleRedesign.html – jedoch ohne Aufschlüsselung der Todesursachen.
Eine Besonderheit: Ich stelle die Abweichungen kumuliert in Form eines Wasserfalls dar, wodurch die Auswirkungen der Maßnahmen Nightingales‘ ab März 1855 direkt sichtbar werden – zusätzlich unterstützt durch das prozentuale Highlighting.
Doch zurück zu Florence Nightingale:
Schwer chronisch erkrankt und bettlägerig kehrt sie von der Krim zurück, widmet sich dem Schreiben, ihrer Begeisterung für die Statistik und Datenvisualisierung und gründet 1860 die erste Schwesternschule Englands.
Wegen ihrer Verdienste um die Statistik wurde sie 1858 als erste Frau in die Royal Statistical Society aufgenommen.
Sie starb im alter von 90 Jahren. Ihr zu Ehren ist der 12. Mai, ihr Geburtstag, heute der Internationale Tag der Pflege.
Dennoch gibt es auch Kritik an der Person Nightingales. Einige Historiker machten sich daran, die britische Nationalheilige vom Sockel zu fegen und beschrieben Nightingale als frustrierte Größenwahnsinnige, Frauenhasserin oder Rassistin. 1998 bezeichnete sie der Brite Hugh Small gar als „Racheengel“. Die „Wahrheit“ liegt wohl wie immer in der Mitte.
Im nächsten Teil dieser Reihe bleibe ich bei runden, zirkulären Darstellungen und dem Verfasser des ersten Buches zur Frage der Auswahl des richtigen Charts: Willard C. Brinton.
Stay tuned
Lars
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